Taiwan: Wenn Hacker an die Macht kommen
Eine lebendige Zivilgesellschaft kann trotz der Digitalisierung und Plattformisierung existieren – oder gerade deswegen? Taiwan macht es vor. Viele Initiativen digitalaffiner Bürgerinnen und Bürger weltweit, beispielsweise die Open Knowledge Foundation in Deutschland, nehmen sich die zivilgesellschaftlichen Hacker von Taiwan zum Vorbild, vor allem die Civic-Tech-Bewegung g0v.
Der Inselstaat gehört zu den jungen Demokratien dieser Welt. Erst in den 90ern wurden nach 40 Jahren Kriegsrecht Redefreiheit und Pressefreiheit eingeführt, ein Mehrparteiensystem löste friedlich die Militärdiktatur der Kuomingtang (KMT) ab. Das war die Zeit, in der sich auch das Internet allmählich verbreitete.
Civic Hacker übernehmen das Parlament
Hervorgegangen sind die verschiedenen Gruppen von zivilgesellschaftlichen Hackern aus der Sunflower-Bewegung 2014. Damals besetzten vorwiegend junge, akademisch gebildete Demonstrierende fast einen Monat lang das Parlament in Taipeh, um gegen ein neues Handelsabkommen mit China zu protestieren. Die alte politische Garde war daraufhin bereit, mit der innovativen Tech-Community zusammenzuarbeiten: Es entstanden mehrere Partizipationsinstrumente, Civic-Hacker:in Audrey Tang wurde 2016 Digitalminister:in.
Eine der ersten Amtshandlungen war die Gründung eines Social Innovation Labs. Das ist ein physischer Raum in Taipeh, wo man jeden Mittwoch die Digitalminister:in persönlich treffen konnte. Einzige Bedingung: Jedes Gespräch wird aufgezeichnet und öffentlich geteilt. Weitere Labs wurden später auch in entlegenen Regionen eingerichtet, um unterschiedliche Bevölkerungsgruppen, einschließlich Indigenen einzubeziehen.
Die Civic-Tech Bewegung g0v
Im Namen der Civic-Tech-Bewegung g0v (gov-zero) ist das o durch 0 ersetzt. Das “definiert die Rolle der Regierung von Grund auf neu”, heißt es auf der Webseite der Bewegung. Sie will die bürokratische Regierung herausfordern und eine transparentere und partizipativere Alternative schaffen. Den Anfang machte das Hacker-Kollektiv vor Jahren durch das „Fälschen“ von Regierungswebseiten. Es untersuchte deren Inhalte, machte Verbesserungsvorschläge und veröffentlichte sie auf gespiegelten eigenen Webseiten.
g0v hat z.B. den jährlichen, Hunderte Seiten langen Haushaltsbericht in eine allgemein verständliche, visualisierte Version auf einer Parallel-Domain übertragen, die mit g0v.tw endet. Die Budgetvisualisierung wurde später von mehreren Stadtverwaltungen übernommen, unter anderem von Taipeh. Sie wurde zur Grundlage für eine Bürgerhaushaltsplattform, wo die Bürger:innen direkt Fragen zu den Budgetbereichen stellen können.
Die regelmäßigen Hackathons der g0v haben außerdem viele Civic-Tech-Projekte wie Open Campaign, vTaiwan, Cofacts und Disfactory geschaffen. Mit Disfactory werden illegale Fabriken aufgespürt, mit Cofacts Faktenchecks ermöglicht. Tausende Freiwillige prüfen verdächtige Meldungen, auch mit Hilfe von KI, die einen schnellen Vergleich mit früheren Fake News ermöglicht. Die Idee dahinter: Es ist nicht die Aufgabe des Staates, Kommunikation zu zensieren. Die Aufklärung erreicht die Menschen im Idealfall, noch bevor die Falschmeldung viral geht.
Die Hacker und die Behörden arbeiten besonders in akuten Krisensituationen gut zusammen: etwa bei Taifunen, Erdbeben oder während der Corona-Pandemie. Die Regierung stellte aktuelle Daten über Schnittstellen zur Verfügung und die Aktivisten bauten Karten und Chatbots, damit die Bevölkerung schnell Ärzte finden, Masken kaufen oder Impftermine buchen konnte. Die Aktivisten füllten dabei nicht nur eine Lücke der öffentlichen Dienstleistungen, sondern wachten auch über der Einhaltung von Privatsphäre und Datenschutz, so Meichun Lee von der Nationalen Wissenschaftsakademie von Taiwan, Academia Sinica.
Mit vTaiwan zum Konsens
Die g0v schuf auch die Beteiligungsplattform vTaiwan, um Beratungsprozesse zwischen Regierung, Bevölkerung und politischen Akteuren zu steuern. Ein bekanntes Beispiel für einen solchen Prozess ist Uber versus Taxi.
Bei der Beratung kontroverser Themen aus dem digitalen Bereich wandelt ein von der Regierung geförderter Think Tank die Unterlagen in leicht verständliche Sprache um, g0v organisiert Gespräche on- und offline. In Sachen Uber äußerten sich Uber- sowie Taxifahrer:innen, Politiker:innen und Bürger:innen. Am Ende wurde über 145 Meinungen abgestimmt.
Die Meinungsphase kann mehrere Runden umfassen, dabei werden Tools wie Pol.is und Slido genutzt, um einen Konsens zu finden. Mit Pol.is werden z.B. Meinungen in Clustern dargestellt. Da nicht die Mehrheitsmeinung, sondern der gemeinsame Nenner gesucht wird, verändert das laut einer Studie der Bertelsmann-Stiftung auch die Diskussion: Sie wird sachlicher, mehr an Gemeinsamkeit als an Gegensätzen orientiert.
Die Gespräche werden immer live übertragen, alle Aufzeichnungen und Dokumente werden online veröffentlicht. Die Vorschläge, die sich am Ende herauskristallisieren, werden zum Gesetzesentwurf ausgearbeitet.
Der Partzipationsprozess über vTaiwan wurde international viel gelobt, aber auch kritisiert. Die Bertelsmann-Stiftung etwa schreibt, vTaiwan sei “gut für ausgebildete, technikaffine Personen”. Eine weitere Einschränkung sieht Meichun Lee, denn “obwohl hinter vTaiwan eine lebendige Gemeinschaft stand, hing ihr Betrieb stark vom politischen Willen der Behörden ab, Vorschläge zu machen und die Schlussfolgerungen durchzusetzen”, gibt die Forscherin zu bedenken.
Pol.is:
Laut Stadtforscher Ian Banerjee ist das Open-Source-Tool Pol.is das Herzstück von vTaiwan. Es dient dazu, Online-Diskussionen zu einem bestimmten Thema zu steuern. Nachdem die Debatte eröffnet ist, kann jeder eine Stellungnahme verfassen, wie mit der genannten Herausforderung umzugehen sei: So wie einst die Bürger der Athener Polis versuchten, die Zuhörer auf der Agora zu überzeugen.
“In Taiwans Pol.is können andere Nutzer entweder ihre eigene Meinung hinzufügen oder einfach auf die Aussagen der Redner antworten, indem sie (…) zustimmen, nicht zustimmen oder ablehnen ankreuzen. Fragen sind nicht erlaubt. Um Trolling, spaltende Kommentare und Provokationen zu vermeiden, gibt es auf der Plattform keine Antwort-Schaltfläche.”
Die Teilnehmenden sehen in Echtzeit, zu welchem Meinungscluster sie gehören: Die beliebtesten Vorschläge gewinnen an Sichtbarkeit. Ein Klick auf “Gemeinsame Meinung” zeigt, welche Meinungen von Personen mit unterschiedlichen Positionen geteilt werden. Das Spiel sei hier, eine gemeinsame Basis, einen “groben Konsens”, zu finden. Die Kritik an der Methode ist, dass die Ergebnisse langweilig sein können.
Dank vTaiwan oder auch der zentralen Bürgerbeteiligungsplattform Join wuchs das Vertrauen in die staatlichen Institutionen. 2014 lag es bei nur 9 Prozent, 2020 waren es über 60 Prozent, sagte Audrey Tang in einem Interview im „Handelsblatt“. Die Vordenker:in ist am 20. Mai 2024 nach den Wahlen zurückgetreten und übergab das Amt an ihren Nachfolger Huang Yen-nun. Gewonnen hatte die regierende Demokratische Fortschrittspartei.
Ian Banerjee, der über die technologiebasierte demokratische Kultur der Insel forscht, sieht in Taiwan das dynamischste Civic-Tech-Ökosystem der Welt. Das hängt aber auch mit der allgegenwärtigen Bedrohung durch den großen Nachbarn zusammen. Die ehemalige Digitalminister:in wird wie folgt zitiert:
Es wäre unmöglich, die einzigartige taiwanesische Mischung aus gesundem Menschenverstand, Vertrauen in die Behörden und lebendiger Protestkultur direkt auf einen anderen politischen Kontext zu übertragen.
Ein Scheibchen davon können wir uns trotzdem abschneiden.
Dieser Text ist ein Ausschnitt aus unserem Longread: Gemeinsam smart- Wie gestalten Bürger:innen die Städte von Morgen?
Linktipps
- Open Knowledge (OK)Foundation.
Forum Offene Stadt - Transparenzportal für öffentliche Verwaltungsdaten.
- Civic Tech Field Guide
- g0v
- Budgetvisualisierung
- Open Campaign
- vTaiwan
- Cofacts
- Disfactory
- Examples of collaboration between civic tech communities and governments around the world
- Pol.is
Titelbild: Parlament Taiwan Kevin-WY from Taichung, Taiwan – IMG_5968, CC BY-SA 2.0
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