Nicht-Binär: Gesundheit für alle Geschlechter
Der Verein Nicht-Binär setzt sich mit einer Broschüre für eine gendersensible Praxis ein. Doch, wie sollen diese Leitlinien in der Praxis umgesetzt werden?
Dieser Beitrag ist in Kooperation mit dem Bachelorstudiengang Medienmanagement an der FH St. Pölten im Wahlpflichtmodul „Mediensoziologie, Gender und Diversity“ (Leitung: Mag. Dr. Gaby Falböck; LV-Mitverantworliche: Mag. Christina Krakovsky) entstanden.
„Der Nächste, bitte!“ Wenn es um die Gesundheit geht, scheint es keine Zeit für eine korrekte Ansprache zu geben. Macht es bei 39 Grad Fieber nichts aus, wenn es nur ein Kästchen für Mann und Frau gibt? Wenn nicht-binäre oder trans Personen zu einer medizinischen Fachkraft gehen, kommt zu den normalen Sorgen rund um die Gesundheit noch die Sorge dazu, diskriminiert zu werden.
Die Person ist wenigstens besser als der letzte Arzt!
So würden es viele trans und nicht-binäre Personen beschreiben, erzählt Felix vom Verein Nicht-Binär.
Trotz jahrzehntelanger Bemühungen kämpfen trans und nicht-binäre Menschen weiterhin mit Diskriminierung und unzureichender Gesundheitsversorgung. Die Resultate im LGBTQ+ Gesundheitsbericht 2022 des Bundesministeriums zeigen, dass 24 Prozent der 196 befragten transgender Personen häufig Diskriminierungserfahrungen im Gesundheitsbereich widerfahren. Bei den 165 befragten nicht-binären Menschen sind es 26 Prozent.
Doch, wie viele Menschen sind insgesamt trans oder nicht-binär? Hier schwanken die Schätzungen stark. Die internationalen Behandlungsrichtlinien Standards Of Care Version 8 gehen davon aus, dass sich, je nach Generation und Ort, ein bis fünf Prozent der Erwachsenen als trans oder nicht-binär identifizieren. Bei Kindern wird von zweieinhalb bis acht Prozent ausgegangen. Die LGBT+ Pride Global Study von 2021 besagt, dass der Anteil in jüngeren Generationen, insbesondere Generation Z, bei bis zu fünf Prozent liegt.
Statistiken basieren jedoch meist auf Personen, die medizinische Transitionen durchlaufen oder ihren Namen offiziell geändert haben, was daher nicht die gesamte Gruppe abdeckt.
Herausforderung für trans* und nicht-binäre Personen
Im Policy Paper Trans*gesundheit des deutschen Bundesverbandes Trans* von 2022 wird berichtet, dass nicht-binäre und trans Personen durch falsche Anrede, direkte Herabwürdigung oder Nutzung der falschen Pronomen des medizinischen Personals diskriminiert werden. Aufgrund von Vorurteilen, dem Nicht-Ernstnehmen von Schmerzen oder Ängsten nach gender-affirmativen Operationen, Reduktion auf Trans- bzw. Intergeschlechtlichkeit oder sogar einem Fremd-Outing, verzichten viele daher komplett auf den Arztbesuch. Dies bestätigt auch Felix im Gespräch mit relevant.
Das Forschungsinstitut DIW Berlin fand 2021 heraus, dass trans und nicht-binäre Menschen zudem statistisch gesehen häufiger als die cis-geschlechtliche Bevölkerung unter Angststörungen, Depressionserkrankungen oder anderen stressbedingten Erkrankungen leiden. Der LGBTQ+ Gesundheitsbericht 2022 betont ebenfalls, dass mehr als die Hälfte der trans, nicht-binären und intergeschlechtlichen Personen bereits ernsthaft über Suizid nachdachten– bei cis Personen war es etwa jede dritte. Zudem haben ein Viertel der trans Personen und jede fünfte nicht-binäre Person bereits einen Suizidversuch unternommen.
Unsichtbar im Wartezimmer
Die Medizin war anfangs auf den weißen Mann ausgerichtet. Hat sich das seitdem verändert? Nicht wirklich, denn dieses Problem kommt leider in der Gendermedizin noch immer häufig auf. Im deutschen Ärzteblatt 2022 berichtet Medizinstudentin Madeleine Sittner, dass Frauen sowie trans und nicht-binäre Personen häufig in der medizinischen Forschung unterrepräsentiert sind.
Besonders bei trans und nichtbinären, fehlt es den Ärzt:innen noch immer an Wissen, Vorbereitung und oft auch an allgemeiner Empathie sowie Akzeptanz gegenüber den Patient:innen. Es wird meist davon ausgegangen, dass ein Mensch cisgender und heterosexuell ist – bis ihnen etwas anderes mitgeteilt wird.
In der Medizin zeigt sich das ebenso an den Referenz- oder Normwerten, die standardmäßig von cisgeschlechtlichen Männern sowie Frauen vorhanden sind. Felix erklärt, dass bei der Bewertung von Gesundheitsrisiken, wie etwa dem Herzinfarktrisiko, es oft unklar ist, ob zum Beispiel für eine trans Frau die Normwerte für Männer oder Frauen herangezogen werden sollten, insbesondere wenn hormonelle Therapien den Körper verändern.
Außerdem braucht es bei nicht-binären und intergeschlechtlichen Menschen mehr spezifisches Wissen, denn diese haben zum Beispiel nicht automatisch Hormonwerte, die zwischen den binären Geschlechtern liegen, sondern können überall am hormonellen Kontinuum zu finden sein. Ebenso gibt es auch cis Personen, deren Hormonwerte nicht im üblichen Normbereich liegen. Solange diese Umstände nicht beachtet werden, können medizinische Versorgungen noch immer fehleranfällig sein.
VENIB als Schutzraum für nicht-binäre Identitäten
Diese Probleme und die damit verbundenen negativen Erfahrungen zeigen deutlich, dass es noch viel zu tun gibt, um das Gesundheitssystem für trans und nicht-binäre Menschen inklusiver und gerechter zu gestalten.
Der Verein Nicht-Binär möchte dabei helfen. Der Verein, auch als VENIB bekannt, bietet einen Austauschort und vertritt vor allem die Interessen von Menschen, die sich dem nicht-binären Geschlechtsspektrum zugehörig fühlen. Ein zentrales Ziel ist die flächendeckende Durchsetzung von Rechten und die bürokratische Anerkennung des Grundrechts auf ein Leben gemäß der eigenen Geschlechtsidentität. Dem Verein, der sich mit seinen 30 ehrenamtlichen Mitgliedern und vier Vorstandsmitgliedern größtenteils durch Spenden finanziert, ist es besonders wichtig, Aufklärungsarbeit zu leisten.
Die Broschüre für eine gendersensible Praxis
Mehr Aufklärung und Bewusstsein in der Gesundheitsversorgung von TIN* Personen (trans, inter*und nicht-binär) im Gesundheitskontext soll durch die 2023 veröffentlichte Queerhealth Broschüre über gendersensible Praxis erreicht werden. Die Broschüre enthält Begriffserklärungen zu verschiedenen geschlechtlichen Identitäten sowie Tipps und Anregungen für eine respektvolle und gendergerechte Ansprache.
Zweieinhalbtausend Exemplare wurden insgesamt gedruckt und zum Großteil an Gesundheitsversorger:innen verteilt, berichtet VENIB-Mitglied Felix. Die meisten Mediziner:innen seien dankbar für eine handfeste sowie digitale Broschüre, an der sie sich orientieren könnten. Auch an Pride-Events und Weiterbildungsveranstaltungen verteilt VENIB die Broschüren. Auf diesem Weg sind andere Vereine wie beispielsweise femmed*, Verein für feministische Medizin, oder VIMÖ, Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich, mit der Broschüre in Kontakt gekommen und verbreiten die Informationen weiter.
Auf dem Weg zu einer inklusiven Gesundheitsversorgung
Der Fokus liegt darauf, Aufklärung zu schaffen und Mediziner:innen die nötigen Informationen für eine bessere Behandlung mitzuteilen. Dies wird auch unterstützt durch die Standards Of Care Version 8. In den Richtlinien sind auch Praktiken für eine optimalere Behandlung und Unterstützung von trans und nicht-binären Personen enthalten.
Die Standards Of Care 8 empfehlen, unter anderem, dass Gesundheitsfachkräfte nicht-binären Menschen eine individuelle Anpassung und Anwendung von Medikation anbieten, die ihre nicht-binären Geschlechtserfahrungen bestätigen.
Ein wesentlicher Teil der Richtlinien für die Gesundheitsversorgung von transund nicht-binären Personen ist das Informed Consent Model. Bei diesem Ansatz in der medizinischen und psychologischen Versorgung steht die Autonomie und Entscheidungsfreiheit der Patient:innen im Vordergrund. Für trans und nicht-binäre Personen bedeutet dieses Modell laut Standards Of Care 8, dass sie den Zugang zu Hormonen oder geschlechtsangleichenden Operationen ohne psychologische Beurteilung erhalten.
Gemeinsam Bildungslücken schließen
VENIB spricht außerdem von mehr Offenheit zur Weiterbildung von Ärzt:innen. So sagt Felix:
Was ich mir wünsche, ist, dass Mediziner:innen in der Lage sind, zu sagen: Darüber weiß ich nichts, da muss ich mich erst einlesen. Viele Menschen empfinden mehr Vertrauen gegenüber medizinischem Fachpersonal, das nicht vorgibt, sich überall sofort auszukennen.
Neben mehr Informationen zu queerer Medizin schon während des Studiums (oft hört man nur eine einzige Vorlesung zu Intergeschlechtlichkeit in der ganzen Ausbildung), wird es von Bedeutung sein, dass auch mehr Schulungen und Weiterbildungen nach der Ausbildung angeboten werden.
Eine Weiterbildungsplattform, die eine diskriminierungsfreie Gesundheitsversorgung sicherstellen will, das Gütesiegel Praxis Vielfalt der deutschen Aidshilfe. Wenn Schulungen und Online-Trainingsprogramme zu HIV & Aids, Genderidentitäten oder Sexualität absolviert werden, bekommen Praxen, hauptsächlich in Deutschland, das Gütesiegel, eine vielfältige und diskriminierungsfreie Praxis zu sein. Diese können als Qualitätsmerkmale für die Arztpraxis gelten und somit ein weiterer Anreiz für Mediziner:innen sein, die Schulungen zu absolvieren.
VENIB wird sich auch in Zukunft für mehr Inklusion und eine gendersensible Praxis einsetzen. Mehr Auseinandersetzung kann nicht nur bei Mediziner:innen, sondern auch in der gesamten Bevölkerung zu größerer Akzeptanz und einem besseren Bewusstsein für die Erfahrungen und Herausforderungen von TIN* Personen führen.
Jede:r einzelne kann einen Teil dazu beitragen und sich über Themen wie geschlechtliche Vielfalt, trans und nicht-binäre Identitäten informieren – am besten bei denen, die sich am besten auskennen.
Begriffserklärungen (Bundesverband Trans* Deutschland / Verein Nicht-Binär)
Trans
Der Begriff „trans“ ist ein Adjektiv und dient als Oberbegriff für Menschen, deren Geschlechtsidentität nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt. Zum Beispiel bezeichnet sich eine Person, die bei der Geburt als weiblich eingeordnet wurde, sich aber als Mann identifiziert, als trans Mann.
„Trans“ umfasst ein breites Spektrum an Geschlechtsidentitäten, einschließlich solcher, die sich unter das „Trans“-Spektrum einordnen. Manchmal wird „trans“ auch mit einem Sternchen („trans*“) geschrieben. Dies soll die Vielfalt der Erfahrungen und Identitäten im Zusammenhang mit trans zu verdeutlichen. Der Stern zeigt auch, dass es verschiedene Begriffe gibt, von denen einige zwar veraltet sind, aber dennoch von manchen Menschen als Selbstbezeichnung verwendet werden.
Der Begriff „trans“ schließt Personen ein, die sich beispielsweise als transsexuell, transident, transgender, genderqueer oder nicht-binär identifizieren. Es wird oft diskutiert, ob das Sternchen notwendig ist, da „trans“ auch ohne Stern bereits das gesamte Spektrum umfasst. Unabhängig davon entspricht die Verwendung von „trans“ oder „trans*“ der aktuellen Praxis, die von den meisten trans Personen und Verbänden als passend empfunden wird.
Cis
Im Gegenteil dazu sind cis Personen die, die sich mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugeschrieben wurde, identifizieren.
Nicht-binär
Menschen, die sich als nicht-binär identifizieren, sehen ihr Geschlecht außerhalb des binären Systems von „männlich“ und „weiblich“. Nicht-binäre Personen benutzen oft weitere Begriffe wie genderqueer, neutrois, agender, weder-noch, sowohl-als-auch, abinär, agender, genderfluid oder enby.
Quellen & weiterführende Infos:
- Verein Nicht-Binär (VENIB)
- Queerhealth Broschüre
- femmed*, Verein für feministische Medizin
- VIMÖ – Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich
- Bundesverband Trans*, Deutschland
- Policy Paper Trans*gesundheit des deutschen Bundesverbandes Trans* von 2022
- Gütesiegel Praxis Vielfalt
- Standards of Care Version 8, World Professional Association for Transgender Health (WPATH)
- LGBTIQ+ Gesundheitsbericht 2022, Bundesministerium Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz
- LGBT+ Pride Global Survey von 2021
- Geringere Chancen auf ein gesundes Leben für LGBTQI*-Menschen, Forschungsinstitut DIW Berlin
- Gendermedizin: Zeit für gute Neuigkeiten, Sittner, Madeleine, Deutsches Ärzteblatt 2022; 119(8): A-324 / B-266
- The informed consent model is adequate for gender-affirming treatment: issues related with mental health assessment in the United States, The Journal of Sexual Medicine, Volume 20, Issue 5, May 2023, Pages 584–587
Illustration: Fiona Walatscher
Foto: Sophie Mantler
Weiterlesen? 2023 ist in Zusammenarbeit mit den Student:innen der FH St. Pölten der Schwerpunkt Gender und Diversität in den Medien entstanden.
Dieser Beitrag ist in Kooperation mit dem Bachelorstudiengang Medienmanagement an der FH St. Pölten im Wahlpflichtmodul „Mediensoziologie, Gender und Diversity“ (Leitung: Mag. Dr. Gaby Falböck; LV-Mitverantworliche: Mag. Christina Krakovsky) entstanden.
Die wichtigen Gesellschaftsthemen sind relevant.
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