Warum wir dringend mehr träumen sollten

Utopien sind mehr als unrealistische Träumerei oder Größenwahnsinn. Werden sie richtig eingesetzt, können sie uns helfen, eine bessere Zukunft zu gestalten.

Schließe die Augen und stelle dir eine Straße in einer Stadt vor, die du gut kennst. Vermutlich siehst du vor deinem inneren Auge viel Verkehr, parkende Autos und nur vereinzelt Bäume und Menschen auf Fahrrädern. Schaffst du es nun, diese Vorstellung zu ändern und eine grüne Wohnstraße daraus zu machen?

Bilder einer besseren Zukunft

Wenn dir diese Übung nicht so leicht fällt, bist du vermutlich nicht alleine. Bei all den negativen Nachrichten und täglichen Herausforderungen ist es naheliegend, dass uns positive Vorstellungen nicht leicht fallen. “Im Krisen- und Gewohnheitsmodus erscheinen Strukturen und Systemlogiken oft alternativlos”, schreibt der Think-Tank Reinventing Society. Für den Historiker Rutger Bregman wiegt diese Tatsache so schwer, dass er schreibt:

Das wahre Problem ist, dass wir uns nichts Besseres vorstellen können.

Rutger Bregman, Historiker

„Wir brauchen mehr Utopien”, lautet deshalb der Ansatz, den die Reinventing Society vertritt. Das Ziel der unabhängigen Denkfabrik ist es, unsere Gesellschaft in eine regenerative Welt zu begleiten. Damit ist nicht eine Welt gemeint, in der nur das geschützt wird, was heute bedroht ist, sondern eine Welt, die neu erblüht. Als Hilfsmittel nutzt der Think-Tank positive Zukunftsbilder und Realutopien. 

Utopien für Realist:innen

Aber klingt eine Realutopie nicht nach einem Widerspruch an sich? Und kann uns utopisches Denken wirklich aus dieser Zeit der Krisen heraushelfen? 


Es sei absolut grundlegend, welche Bilder wir von der Zukunft hätten, sagt dazu Ian Banerjee. Er forscht seit über 20 Jahren auf mehreren Kontinenten zu Städten und Innovationen und hat dabei einen Bereich entdeckt, der seiner Ansicht nach seit 70 Jahren unterbelichtet ist: Futures Thinking. Auch wenn das Konzept universitär entstanden ist, findet Banerjee den Kern für alle Menschen relevant. Und dieser lautet:

Wir können nie wissen, was die Zukunft bringt, aber wir können uns darauf vorbereiten.

Ian Banerjee, Stadt- und Zukunftsforscher (TU Wien)

Unter dem Oberbegriff Futures Thinking wurden in den letzten Jahrzehnten viele praktische Methoden entwickelt und getestet. Der Forscher fasst sie in einem Prozess zusammen, der beim Wahrnehmen von aktuellen Themen anfängt und am Ende in eine strategische Planung für die Zukunft mündet. 

Teil des Prozesses ist auch die Entwicklung von Vorstellungen über mögliche  Zukünfte. Diese können “frei von der Leber weg, emotional” oder auf der Grundlage von Daten entstehen. Der erste Ansatz führt zur frei gedachten Utopie, der zweite zur Realutopie. Weil die Realutopie auf Daten und Dingen aufbaut, die es schon gibt, ist sie grundsätzlich nicht unrealistisch. 

Produktives Träumen

Ian Banerjee spricht von “preferred futures”, also erstrebenswerten Zukünften, die gemeinsam entwickelt und dann als eine Art Kompass verwendet werden können. Wichtig ist ihm dabei, dass diese Vorstellungen von Zukunft dynamisch sein müssen. “Im 21. Jahrhundert können wir nicht mehr mit statischen Bildern arbeiten”, ist der Forscher überzeugt.

Utopien müssen immer unfertige Vorschläge für eine bessere Welt bleiben und offen sein für unterschiedliche und marginalisierte Perspektiven.

Reinventing Society

Schreibt auch Reinventing Society. Konkret arbeitet der Think-Tank mit verschiedenen Methoden, die für einzelne sowie für Gruppen funktionieren. Die vielleicht einfachste Methode ist eine Art Brainstorming. Aber es gibt auch Methoden, wie verschiedene Utopien verbunden und kommuniziert werden können. 

Dabei können ganz unterschiedliche Fragen erforscht werden: Wie würde unsere Welt aussehen, wenn wir alle unsere Dächer begrünen würden? Was wäre, wenn wir alle mehr Zeit für freiwilliges Engagement hätten, weil wir weniger arbeiten? Wie würden unsere Städte aussehen, wenn sie frei von Autos wären? 

Wo wollen wir hin? Das ist die entscheidende Frage. Und wer sich damit befasst, habe ein Werkzeug gegen Verunsicherung und Angst in der Hand und komme schneller ins Handeln, sagt Ian Banerjee. Vor allem für junge Menschen sei es verdammt wichtig, das Gefühl zu haben, etwas für die Zukunft zu tun, ist Banerjee überzeugt.

Grenzen der Träumerei

Die Angst, dass Realutopien schnell zu Ideologien werden können, wie es in der Vergangenheit passiert ist – vor allem im Rahmen des Faschismus – teilt Ian Banerjee nur bedingt. Er vertraue auf die Demokratie, in der ein offener Diskurs möglich sein sollte. “Demokratie muss man immer verteidigen”, sagt der Forscher, sieht aber die Entwicklung von möglichen Zukünften nicht als Hauptgefahr für einen freien Diskurs. 

Mehr Sorgen bereitet ihm der Techno-Optimismus, den es seiner  Wahrnehmung nach schon seit dem Beginn der Industrialisierung gibt. “Was wir in der Zukunft wollen, ist viel wichtiger als die Technologie”, sagt Banerjee. Er wünscht sich einen intensiveren gesellschaftlichen Diskurs darüber, wie wir mit Artificial Intelligence und Auswirkungen von Technologien umgehen.

Eine weitere Gefahr im Umgang mit positiven Zukunftsbildern beschreibt Gabriele Oettingen. Die Professorin für Psychologie erforscht seit Jahren, wie wir Wünsche auch in die Tat umsetzen können. Sie hat herausgefunden, dass wir uns eher zurücklehnen, wenn wir uns die Zukunft zu schön ausmalen. Wenn wir uns allerdings die Hindernisse vor Augen führen würden, die uns vom Ziel trennen, würden wir auch ins Tun kommen.

Den utopischen Muskel trainieren

Doch wo anfangen? “Alle sollten einen Kurs in Futures Thinking machen”, plädiert Ian Banerjee und erzählt von einer Universität in Taiwan, an der tatsächlich alle Studierenden ein entsprechendes Fach belegen. 

Jede und Jeder von uns kann aber auch niederschwelliger anfangen, den utopischen Muskel zu trainieren. Es kann schon hilfreich sein, mehr konstruktive Nachrichten und utopische Bilder zu konsumieren. 

Wer das möchte, kann zum Beispiel Jan Kamensky auf einem seiner Social-Media-Kanälen folgen. Dort teilt der Künstler inspirierende Bilder und kurze Videos, in denen er aus stark frequentierten und asphaltierten Straßen, grüne und entschleunigte Orte der Begegnung schafft. Damit macht er Möglichkeiten sichtbar und hilft Menschen, ihren Blick zu schärfen. Ist der Status Quo tatsächlich so alternativlos, wie es scheint?

Eine Welt voller Lösungen

Für viele Probleme unserer Zeit gibt es schon Lösungsansätze, die im Kleinen oder an anderen Orten erprobt werden oder erwiesenermaßen funktionieren. Einige dieser Lösungen schauen wir uns in den nächsten Monaten aus einem realutopischen Blickwinkel an. Wir entwerfen inspirierende Bilder und erforschen, was schon funktioniert und wo Herausforderungen liegen. Wie könnte das utopische Potenzial von radikaler Verkehrsberuhigung, Begrünung und Partizipation entfesselt werden? 


Alle Artikel aus der Reihe Zukunftsutopien:

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Linktipps

Titelbild: Zukunftsvision #209, Buntes Amt für Zukunft, CC BY-NC-SA 4.0


Dieser Artikel wurde mit freundlicher Unterstützung von der Stadt Wien – Kulturabteilung ermöglicht.



Die wichtigen Gesellschaftsthemen sind relevant.


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